Um 16 Uhr treffen sich Judd Trump und David Grace sowie Stuart Carrington und Jak Jones am grünen Tisch. Sie läuten damit die Championship League ein, das erste Turnier seit März. 64 Spieler, 16 Gruppen, vier Frames pro Match, ein bisschen Preisgeld. Viele freuen sich sehr darüber, andere sind skeptisch, dass wir wieder Snooker sehen. Bei mir will nicht recht Begeisterung aufkommen.
World Snooker Tours hat ein Konzept erarbeitet, dass sicher klingt und Sinn zu machen scheint. Bei allen Beteiligten wurde vorher ein Corona-Test gemacht. Niemand darf den Veranstaltungsort vor Ausscheiden oder dem Ende des Turniers verlassen. Zuschauer sind nicht zugelassen und das TV-Team arbeitet offensichtlich zumindest teilweise von zu Hause.
Es ist auch nicht die Sorge um eine Corona-Ansteckung, die meine Freude so bremst. Auch nicht die Vorstellung, dass womöglich Test-Ressourcen ver(sch)wendet werden. Für das Testen von Spielern und anderen Beteiligten, statt von Beschäftigten in Altenheimen und Krankenhäusern. Es ist auch nicht so, dass ich nicht eine Ablenkung gebrauchen könnte …
Eine Prioritätenliste, auf der Snooker ganz unten steht
Bei allem, was gerade in der Welt passiert, kommt mir Snooker einfach so unwichtig vor. Kann ich nach dem Attentat von Hanau dabei zuschauen, wie bunte Bälle rollen? Wie kann ich über die Morde an George Floyd, Breonna Taylor, Ahmaud Arbery, Tony McDade und vielen anderen Schwarzen Menschen lesen und mir Gedanken über den Gruppenmodus der Championship Leage machen? Wenn ich über die Brutalität der Polizei nicht nur in den USA, sondern auch hier Bescheid weiß, kann ich dann Artikel über Snooker schreiben? Kann ich mich der steigenden Belastung durch COVID19 bei meiner Arbeit gegenübersehen und gleichzeitig über Ricky Walden beim SnookerGifSunday freuen? Wie kann ich von den Lebensumständen der Geflüchteten in Sammelunterkünften oder Auffanglagern wissen, und Ronnie O’Sullivan dabei zuhören, wie er seine nächsten Karriereschritte plant oder umwirft?
Ich kann nicht.
Gestern war ich noch auf einer Demo, wo Strategien für eine gerechte Verteilung der Krisenlast vorgestellt wurden. Ich habe mit meinen Mitwohnis Spendenmöglichkeiten ausgewählt und Geld überwiesen. Mit einem Snookerspieler habe ich über seine eingeschränkte weiße Weltsicht diskutiert, Und ich habe viel geweint, besonders im Kontakt mit meinen Schwarzen Freund*innen. Und immer, wenn ich versuche, mich abzulenken, sitze ich einfach nur stumpf da und bekomme nichts mit. Weder TV-Serien noch Bücher oder Musik dringen zu mir durch. Sie vertreiben nicht meine Sorgen und Gedanken, sie geben mir keinen Ausgleich.
Trotz alledem rollen die Bälle …
… und ich möchte keiner Person, die Spaß am Snooker hat, diesen verderben. Es ist ja auch schön, dass wir 64 Spieler, darunter Judd Trump, Neil Robertson, Mark Selby, Stuart Bingham und Mark Davis, wiedersehen. Und sogar ein so seltener Gast wie Ronnie O’Sullivan gibt sich die Ehre.
Auf unserer Turnierseite könnt ihr euch wie immer über die Spiele, die Spielzeiten und Ergebnisse informieren.
Bis ich mich dazu wieder in der Lage fühle ausführlicher zu berichten, möchte ich gerne auf meine Kolleg*innen verweisen. MeinSportpodcast ist wieder am Start und berichtet, in der letzten Folge mit einem Interview mit Kyren Wilson. Ebenso natürlich Rolf Kalb auf seinem Eurosport-Blog. Wer Englisch spricht, kann sich erstmal mit Angles McManus und den Zahlen amüsieren. Oder die (auch etwas skeptischen) Vorschauen von David Caulfield – SnookerHQ oder Cluster of Reds lesen.
Schade, denn Ihre Kommentare lese ich gern. Ich kann verstehen, daß die Corona-Krise die Sensibilität für die große Zahl der Schieflagen dieser Welt erhöht. Aber ehrlich gesagt: Snooker war auch vor Corona ein snobistischer Sport mit nicht zu rechtfertigenden Gewinnsummen in der Spitze bei den Männern. War es also zu rechtfertigen, daß ich die German Open genossen habe, während Kinder vor Hunger starben, Frauen vergewaltigt wurden, Flüchtlinge ertranken und PoC, Indigene und andere regionale Minderheiten drangsaliert wurden an so vielen Orten dieser Welt? Alles ohne und vor Corona. Wenn, dann müßte man konsequent sein und sagen, ich kann es nicht verantworten, mich mit Banalitäten wie Sport etc. zu beschägftigen, solange es noch irgendwo Leid und Unrecht auf der Welt gibt. Corona macht sensibel für solche Dinge und zeigt die Banalität unseres Alltags im satten Deutschland. Aber ich meine auch, daß es manchmal ein legitimes Anliegen ist, sich unterhalten und zerstreuen zu wollen. Wenn man permanent alles Leid der Welt reflektiert und sich ständig seiner Ohnmacht bewußt wird, zerbricht man irgendwann psychisch daran. Eine andere Sache ist, ob die Spieler so monströs viel verdienen müssen (analog im Männerfussball…) und ob es nicht schön wäre, wenn der ein oder andere etwas spenden oder Mr. Hearn eine größere Spende ausloben würde.
Alles Gute!!!
Geht mir irgendwie ähnlich – aber – dann dürfte man ja auch sonst nichts machen. Sport fernsehen, Filme gucken.. Das ist auch alles unwichtig…
Man muss schon wieder etwas Normalität zulassen..
Diese Einstellung kann man natürlich verstehen, da Hanau und rassistische Morde, sowie Polizeigewalt ja erst jetzt in den letzten sechs Monaten passierten.
Davor war ja alles heile Welt und man konnte sich dem (Snooker) – Sport ungezwungen hingeben.
Angesichts der nicht stattgefunden habenden weltweiten Gewalt, der nicht verhungerten Millionen Kinder, der nicht durch Klitorisbeschneidungen verstümmelten Mädchen, der nicht vor Krieg und Hunger auf der Flucht im Mittelmeer Ertrunkenen, der nicht durch Personenminen (z. B. aus Deutschland als drittgrößtem Rüstungsexporteur) entstellten………………konnte man sich bis vor Hanau offensichtlich Gedanken um Gruppenmodi und Karriereplanungen der Spieler machen. Jetzt natürlich nicht mehr. Außer man hat nicht hinter dem Mond aka. In seiner westlichen Wohlfühlgesellschaft, in der es ja dies alles nicht gab, gelebt. Plötzlich sind viele Leute wachgeworden, weil es jetzt was gibt, was einen selbst betrifft bzw. seine Existenz bedroht.
Was ich eigentlich meine: Ihre Erkenntnis ist sehr löblich, kommt aber sehr überraschend.
Wer mit offenen Augen und Ohren durch die Welt geht hätte sich mit Ihrer Einstellung und Argumentation nie für Snooker oder irgendeine kulturelle Ablenkung interessieren dürfen.
Man darf und kann aber beides gleichzeitig haben, ohne schlechtes Gewissen: Emphathie und Egoismus.
„Streitet im Netz für alle Formen von equality. “
… und hat leider kein Wort dafür, dass das Frauenturnier mal wieder nicht auf Eurosport übertragen wird. Der Snooker-Chauvinismus NACH Corona ist derselbe wie VOR Corona.
Da kann man Linus Giese und die TERF-„Anklage“ retweeten, aber für tatsächliche Frauen hat man/frau nix übrig.
Liebe Lula Witzescher,
seltsam, vor Corona konntest Du das alles und Snooker stand auf Deiner Prioritätenliste sicher sehr weit oben. Man nennt das Doppelmoral.
Hallo Wolf,
nein und nein. Wenn du den Blog aufmerksam verfolgt hättest, wäre dir nicht entgangen, dass es immer wieder (und in letzter Zeit vermehrt und länger) Phasen gegeben hat, in denen ich nur wenig oder mit wenig Leidenschaft berichtet habe. Aber hauptsache urteilen, das ist ja das Wichtigste.
Hallo Ellen,
ich finde nicht, dass ‚man‘ konsequent sein muss in der Art, wie Sie das beschreiben. Ich finde ja auch, dass Ablenkungen gut und schön sein können, da gibt es keinen Zweifel. Nur ging es für mich momentan einfach nicht. Ich engagiere mich sehr viel, im persönlichen Umfeld, in meinem Beruf, ehrenamtlich … sodass ich es mir und meinen Leser*innen bisher gegönnt habe, im Blog diese Themen weitgehend auszusparen. Es war auch nicht Corona, was mich umgehauen hat, sondern die anderen erwähnten Themen.
Es ist mir wohl entgangen, dass es seit Beginn von Corona ein Frauenturnier gegeben hat. Und dass Frauensnooker immer zu kurz kommt, darüber habe ich oft genug geschrieben. Und dieser Take „tatsächliche Frauen“ ist transfeindlich as hell und trans Frauen nehmen Ihnen schon nicht die Privilegien als Frau weg, nur weil sie auch Frauen sind. Transfeindliche Leute wie Sie sind der Grund, warum ich Linus Giese retweete.
Dass Snooker alles andere als ein inklusiver, gleichberechtigter Sport ist, habe ich hoffentlich nie behauptet. Im deutschsprachigen Raum bin ich eine der wenigen Personen, die überhaupt ab und zu über Frauensnooker berichtet und das System immer wieder in Frage stellt. Doch ich hatte den Eindruck, dass sich dort wenigstens etwas tut und bin jetzt nur von der Langsamkeit des Fortschritts auch langsam ermüdet. Leider habe ich mir die Leidenschaft Snooker nicht bewusst ausgesucht, eher hat sie mich heimgesucht. Aber diese irre Geldmacherei ist auch einer der Gründe, dass mir mein Engagement hier immer schwerer gefallen ist.
Danke für die Wünsche. Ich hoffe, dass wir alle unseren Weg finden, mit diesen Dingen irgendwie klarzukommen. Und irgendwo auch (wieder) Freude finden, sei es nun am Snooker, am Fußball oder an Unterwasserrugby.
Hallo Stephan,
meine Erkenntnis war bei Weitem nicht neu. Das wüssten Sie, wenn Sie mir auf Social Media folgen würden. Ich habe es nur aus verschiedenen Gründen bisher vermieden, meine Haltung dazu so deutlich im Blog offenzulegen. Und wenn ich die teils hasserfüllten und überheblich anklagenden Antworten auf meinen zugegebenermaßen sehr persönlichen Beitrag hier lese, dann frage ich mich auch, ob ich es nicht besser gelassen hätte.