Auch wir stehen unter Druck. Wir müssen ja doch irgendwie zugeben, dass so ein Snookermatch einige Längen aufweist. Und drumherum auch viele Pausen hat. Besonders während einer WM, bei Multi-Session-Matches, bei denen viel auf dem Spiel steht.
Und diese entstehenden Lücken werden gerne gefüllt mit Spekulationen, mit Interpretationen, mit Reaktionen und mit Reaktionen auf Reaktionen. Um uns dann hinterher darüber aufzuregen, dass aus einer Mücke ein Elefant geworden ist. Aber was sollen wir auch anderes tun?
Tränen als Druck-Ventil
Der jüngste Anlass ist das Halbfinale der diesjährigen WM. Während des Entscheidungsframes gegen Anthony McGill sah es kurz so aus, als würde Kyren Wilson in Tränen ausbrechen. Was er im Anschluss an das Spiel ja auch tat. Viele sahen darin die große Menschlichkeit von Kyren, sein Mitgefühl Anthony gegenüber, den er auf so banale, auf purem Glück beruhende Weise um den Sieg brachte. Sicher möchte ein so guter Spieler wie Wilson nicht gerne durch einen Fluke ins WM-Finale einziehen.
Aber könnte es nicht sein, dass diese Tränen einfach ein Ventil für ganz viele verschiedene Gefühle waren, die sich im Laufe dieses Matches angestaut haben? Freude, Enttäuschung, Erleichterung, Unsicherheit, Spannung, Angst, Hoffnung? Und in Wilsons Fall erlaube ich mir die Überzeugung, dass er auch geweint hat, weil er dachte, die Schönheit des gesamten Spiels durch diesen schnöden Fluke entweiht zu haben.
Wer die Aufnahmen von Carty und Clarke kurz nach ihren Qualifikationssiegen gesehen hat, wird mir vielleicht recht geben, dass in diesen Momenten eine Art Zusammenbruch stattfindet. Hier ist es nicht nur ein Gefühl, das sich Bahn bricht und vor allem ist dies nicht der Augenblick für rationale, also überlegte Handlungen. Das ist auch der Grund, warum es eigentlich extrem unfair ist, den Leuten direkt danach ein Mikrofon ins Gesicht zu stecken. Da müssen wir uns über den Unfug nicht wundern, der dabei herauskommt.
Was ist „erlaubt“?
Andere Spieler nutzen andere Ventile. Einige davon werden vom Publikum oder Kolleg*innen eher akzeptiert als andere. Ein durch die Gegend springender Liang Wenbo wird von vielen als „zu doll“ wahrgenommen, während manche sich darüber freuen. Dass Judd Trump Neil Robertsons Jubel beim Erreichen der 100. Saisoncenturies scheinbar emotionslos hinnimmt und nicht einmal gratuliert, bezeichnen einige als „arrogant“. Andere meinen, es sei richtig gewesen, sich nicht ablenken zu lassen. „Fistbumps“ werden als „übertrieben“ gewertet, es soll auch schon einen ausgestreckten Mittelfinger gegeben haben, der kontrovers aufgenommen wurde.
Etwas anders ist es, wenn sich diese Übersprungshandlungen am Tisch oder neben dem Tisch zeigen. Über einen nägelpulenden O’Sullivan machen sich vielleicht Leute lustig oder finden es eklig, aber ihm wird keine böse Absicht unterstellt. Anders bei handtuchschwingenden und mit dem Stuhl knarzenden Spielern. Der eine gibt während des Frames nahezu ungestraft Autogramme und der andere bekommt noch Verständnis für das Fragen nach der Uhrzeit, weil sein Gegner angeblich absichtlich langsam spielt. Doch vielleicht haben alle Handlungen denselben Hintergrund: den Umgang mit Druck.
Zu Peter Ebdons Spiel habe ich an dieser Stelle schon etwas geschrieben. Seine Strategie, unter Druck langsam zu werden, wird ihm immer wieder als böse Absicht ausgelegt. Das Gleiche gilt für Selby, der unter Druck anfängt, defensiv zu spielen. Ich will nicht abstreiten, dass diese Strategien einen negativen Effekt auf das Spiel des Gegenübers haben können. Aber das macht es weder zu einer schlechten Strategie, noch sollten sie damit aufhören, weil Leute es negativ bewerten. Warum sollte es nicht erlaubt sein, damit Weltmeister zu werden?
Der Vorteil der Erfahrung
Es gibt ein Sprichwort, das lautet: „Erfahrung bedeutet, einen Fehler wiederzuerkennen, wenn ich ihn das nächste Mal mache.“ Wenn du als Spieler richtig gut sein willst, ist es natürlich ratsam, sie zu erkennen, bevor du sie noch einmal machst. Aber das scheint nicht jedem gegeben zu sein. Wir dürfen gespannt sein, ob Jamie Clarke bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit wieder in der Pause einen Tweet absetzen wird, der sich auf seinen Gegner bezieht. Nicht alle schaffen es, mit dem Druck des Debüts so umzugehen wie James Cahill im letzten Jahr.
Selbstbewusstsein bedeutet, die Balance zwischen wertschätzender Selbstwahrnehmung und realistischer Einschätzung des Gegners zu finden. Auf der Suche nach dieser Balance reflektieren die Aktiven im besten Fall ihre Aktionen und sortieren anschließend, was funktioniert hat und was nicht. Wenn du einmal deine Führung zu selbstverständlich genommen und nicht gesehen hast, dass dein Gegenüber wieder in Fahrt kommst, wirst du das nächste Mal vorsichtiger sein.
Alle müssen die eigene Strategie gegen den Druck finden
Diese Erfahrungen helfen, die richtigen Strategien zu finden, mit dem Druck umzugehen. Im Beitrag von gestern habe ich auch schon etwas zum Jester geschrieben. Ich kann mich noch erinnern, dass viele Leute die Albereien von Selby als Lockerheit empfanden und ich habe mich schon damals gefragt, ob es niemand merkt, was er da tut. Warum macht er das wohl nicht mehr? Ist er nicht mehr der lockere, lustige Jester? Nein. Ich würde sagen, er hat gemerkt, dass diese Strategie ihm nicht gut geholfen hat. Erst, als er aufgehört hat, am und neben dem Tisch den Clown zu spielen, hat er seine WM-Titel errungen.
Wer sich für dieses Thema interssiert, sollte auf alle Fälle das Buch von Hector Nunns lesen, The Crucible’s Greatest Matches: Forty Years of Snooker’s World Championship in Sheffield. Ich war ein wenig skeptisch und dachte, ich würde doch alles rund um die beschriebenen Spiele schon kennen. Aber das Buch bietet einen ganz besonderen Blick in das Innenleben der Spieler. Sie beschreiben, was in ihnen vorgegangen ist, welche Umstände und Ereignisse sie in welcher Weise beeinflusst haben, was ihnen Druck verursacht. Daraus ergibt sich für die Lesenden nochmal ein erweiterter Blick auf das Geschehen und das ist eine wirkliche Bereicherung.