WM-Viertelfinale 2005, Peter Ebdon liegt gegen Ronnie O’Sullivan 2–8 zurück. Doch im 11. Frame fängt das Spiel an zu kippen und Ebdon kämpft sich mit einem zähen Comeback zum 13–11-Sieg. Finale World Open 2018: David Gilbert führt 9–5, nur noch ein Frame trennt ihn vom ersten Titelgewinn seiner Karriere, doch am Ende gewinnt Mark Williams. Geschichten wie diese sind keine Seltenheit im Snooker. Für viele Fans sind sie sogar die Hauptsache am Spiel: die Dramen, die sich abspielen, wenn die klare Führung eines Spielers schmilzt, ein Favorit gegen einen Underdog ins Straucheln kommt, das Comeback des Gegners doch noch abgefangen wird … all das macht den besonderen Reiz beim Snooker aus. Durch die Struktur des Spielgeschehens entstehen besondere Dynamiken, die es in anderen Sportarten nicht gibt. Neben den technischen Fertigkeiten erfordert das Spiel deshalb besondere mentale Fähigkeiten. Nirgendwo sonst ist ein Spieler dazu verdammt, in seinem Stuhl sitzend seinem Gegner einfach nur zuzuschauen – ohne die Möglichkeit, direkt einzugreifen.
Der letzte Frame ist immer der Schwerste
Wie für David Gilbert gilt diese Snookerweisheit auch für viele andere. Warum ist es so schwer, die Ziellinie zu überqueren? Den Sieg in greifbarer Nähe, beginnt für viele das große Flattern. Vielleicht sind sie abgelenkt, weil sie in Gedanken schon feiern, vielleicht können sie es nicht glauben, tatsächlich zu gewinnen … die Liste der Gründe ist sicher lang. Und es gibt tatsächlich auch Aktive, die mögen es einfach nicht, andere zu besiegen. Um mit diesem Druck umzugehen, braucht es Selbstbewusstsein und Erfahrung.
Auch das Spiel zwischen Peter Ebdon und Ronnie O’Sullivan zeigte deutlich, wie wichtig die mentale Stärke für ein Snookermatch ist. O’Sullivan war trotz spielerischer Überlegenheit nicht in der Lage, sich auf sich und sein Spiel zu konzentrieren. Er ließ sich aus dem Rhythmus bringen und zeigte seine Frustration in seinem Gebaren abseits des Tisches mehr als deutlich, indem er auf seinem Stuhl herumturnte, nervös lachte und am Ende sogar jemandem im Publikum nach der Uhrzeit fragte. Ebdons schiere Konzentration dagegen war beeindruckend. Er erarbeitete sich seine Chancen und ließ sich weder von seinen eigenen Fehlern noch vom Verhalten seines Gegners irritieren. Böse Zungen sagen über ihn, er wisse nie, wann er verloren hat. Doch andersherum wird ein Schuh daraus: Er hat die außerordentliche Fähigkeit, niemals aufzugeben.
Mentale Stärke für den inneren Kampf
„Individualsportarten sind ein Kampf gegen sich selbst, die starke gegen die schwache Seite. Wenn du nicht die mentale Stärke hast, diesen konstanten Kampf auszuhalten, bietet dir dein Geist langsam aber sicher Ausreden an, um zu verlieren. ‘Heute ist nicht mein Tag. So gut hat er noch nie gespielt. Heute habe ich echt Pech’. Das ist der Punkt, wo Verlierer verlieren und Champions sich steigern.“ Der Sportpsychologe Bill Beswick beschreibt hier eine andere große Herausforderung beim Snooker: in den Phasen des Nichtstuns positiv und selbstbewusst zu bleiben und aufkommende negative Gedanken in positive zu verwandeln.
Mentaltraining im Snooker
Mark Selby ist sicher das bekannteste Beispiel für mentale Stärke. Nicht viele Spieler sind wie er in der Lage, sich auch durch Spiele durchzubeißen, in denen es nicht wie am Schnürchen läuft. Seinen ersten WM-Titel im Jahr 2014 holte er genau auf diese Art.
Spieler wie er stehen nicht ganz oben in der Rangliste, weil sie so viel besser Snooker spielen als die anderen, sondern weil sie die stabilere Geisteshaltung haben. Oft ist das Selbstwertgefühl nicht naturgegeben. Auch Aktive mit großen spielerischen Fähigkeiten kämpfen mit Selbstzweifeln und Durchhalteproblemen. In den letzten Jahren hören wir deshalb häufiger, dass sie sich Hilfe holen, „um an der mentalen Seite zu arbeiten“. Ronnie O’Sullivan zum Beispiel machte durch seine Zusammenarbeit mit dem Sportpsychologen Steve Peters große Fortschritte, mit dem auf ihm lastenden Druck umzugehen und das Thema wurde mehr und mehr öffentlich. Top-Spieler wie Mark Williams, Ding Junhui, Barry Hawkins und Mark Allen haben mit Ex-Weltmeister und Snookercoach Terry Griffiths zusammengearbeitet und Chris Henry, ehemaliger Coach von Stephen Hendry, arbeitet mit Spielern wie Shaun Murphy und Mark Davis.
Doch was machen die denn überhaupt?
Die Säulen der mentalen Stärkung
Mentale Stärke entsteht aus verschiedenen Faktoren und Fähigkeiten. Dazu gehören: Selbstvertrauen, souveräner Umgang mit Selbstzweifeln und Niederlagen, das Ausblenden von Störfaktoren, das Regulieren von Emotionen und Gedanken, Konzentrationsfähigkeit und der Spaß am Sport. Mentaltraining zielt auf die Stärkung dieser Bestandteile.
Routinen
Eine wichtige Grundlage sind Routinen. Wenn Bewegungsabläufe verinnerlicht werden, muss man nicht mehr darüber nachdenken und kann dadurch Energie für Konzentration und Durchhaltevermögen sparen. Die im Snooker wichtigste Routine, die Pre-Shot-Routine, kann durch Visualisierung – das wiederholte, intensive „Durchdenken“ eines optimalen Bewegungsablaufes, jedoch ohne dessen gleichzeitige Ausführung – optimiert werden. Je routinierter der Bewegungsablauf, desto höher das Selbstvertrauen.
Atem
Beim Paul Hunter Classic in Fürth traf ich Peter Ebdon und fragte, was für ihn hier Erfolg bedeuten würde. Er antwortete: „Den ersten Frame zu gewinnen.“ Sich nur auf das direkt vor ihm Liegende zu konzentrieren hilft, negative Gedanken zu vermeiden. Ebdon nutzt darüber hinaus noch andere Techniken, doch sein Basiswerkzeug ist der Atem. „Atmen muss ich sowieso. Und das ganz bewusst zu tun, hilft mir, mich auf mein Spiel zu konzentrieren.“ Denn bewusste Bauchatmung versorgt nicht nur die Muskulatur und das Gehirn mit ausreichend Sauerstoff, sondern lenkt die Aufmerksamkeit aus dem Denken in den Körper, wo sie für die nächste Routine gebraucht wird.
Der Glaube an sich selbst
Paul Hunter gewann seine drei Masters-Titel jeweils nach großem Rückstand im Entscheidungsframe. Sogar weit zurückliegend machte er immer noch einen positiven Eindruck. Über Paul sagen Kollegen, er hätte jeden Ball gespielt, als sei es der erste des Spiels. Die Fähigkeit, stets positiv zu bleiben und seine Fehler nicht in den nächsten Stoß mitzunehmen, war die Grundlage für solche Erfolge unter großem Druck.
Um positive Glaubenssätze zu verfestigen und das vorhandene Potential zu aktivieren, hilft zum Beispiel die Arbeit mit dem Ressourcenzustand, dem Zustand, in dem ein Mensch alle Fähigkeiten, positiven Energien und Stärken zur Verfügung hat. Durch die Erinnerung an erfolgreiche Wettkampfsituationen kann der Spieler die Ressourcen, die in dieser Situation zur Verfügung standen, in eine Situation transportieren, wo sie fehlen.
Andere Techniken aus dem Mentaltraining sind: bewusster Umgang mit Emotionen, klare Zielsetzung, positive Affirmationen (Leitsätze), Stopp-Sagen bei Selbstzweifeln und das Üben realistischer Selbsteinschätzung.
Selbstbewusst zu sein ist harte Arbeit
Mark Davis stieß mit Hilfe des mentalen Trainings nach 21 Profijahren das erste Mal in die Top16 vor. Er ist der Ansicht, dass mentales Training genauso wichtig ist wie das Training am Tisch. Je früher man damit anfinge, desto besser können sich die Ergebnisse verfestigen. Er selber habe 19 Jahre lang „furchtbare Gedanken“ gehabt, die verschwinden nicht so einfach. Deswegen liegt trotz der Verbesserungen, die er durch das Mentaltraining schon erzielt hat, immer noch viel Arbeit vor ihm. „Aber ich muss das wirklich regelmäßig machen, um Nutzen daraus zu ziehen. Nicht viele Spieler machen das ausreichend – das gilt auch für mich.“
Auch das Überleben auf der Tour erfordert mentale Stärke
Auch am Ende der Weltrangliste ist der Druck hoch und die Spieler können jede Hilfe gebrauchen, um sich auf der Tour zu behaupten. Gerade bei Spielern im zweiten Jahr der Zwei-Jahres-Karte für die Main Tour zeigt sich der Druck ums „Überleben auf der Tour“ darin, dass sie auch Spiele verlieren, die sie im Jahr zuvor noch gewonnen hätten. Viele gehen positiv in die Spiele und das ist ein guter Anfang. Aber das Unterbewusstsein spielt für Höchstleistungen eine extrem wichtige Rolle und eine positive Grundhaltung reicht nicht aus, um unter Druck das vorhandene Potential komplett abzurufen. Unsicherheiten zeigen sich dann zum Beispiel daran, dass überproportional oft der Ball zum Framegewinn verschossen wird.
Auch in diesen Fällen kann Mentaltraining helfen, das vorhandene Potential abrufen zu können und dem Druck besser standhalten zu können.
Quellen:
BBC: https://www.bbc.com/sport/snooker/22340261
Total Snooker: https://www.youtube.com/watch?v=RvbhrI7Nmsk
SnookerPRO: https://snookerpro.de/artikel/mark-davis-gewinnen-ist-alles-was-zaehlt/
Dieser Artikel erschien zuerst im Programm zum German Masters 2019. Die englische Version gibt es hier.