Auf Reisen
In der nächsten Bäckerei bewaffnete sie sich mit einem Dutzend Dolce und freute sich auf einen schönen Resttag im Hotelzimmer. Fernsehen! Seit Pinar den Fernseher abgeschafft hatte, frönte sie dieser Sucht nur noch selten. Und jetzt hatte sie eine multinationale Superauswahl: Daily Soap auf Spanisch, dusselige Gameshow auf Italienisch, Nachrichten auf Englisch … wo sind denn hier die deutschsprachigen … ah da, ZDF, naja … ooooohhhh: Snooker auf Deutsch! Das ist ja toll. Und was sah sie: Es war WM! Sie war begeistert! Kaum hörte sie die Stimme des Kommentators, fühlte sie sich augenblicklich von einer schönen Erinnerung eingehüllt: Pinar und sie gemütlich Arm in Arm auf der Couch, die Stille im Zimmer nur selten unterbrochen durch einen Kommentar von Rolf Kalb. Kalb kommentierte nicht nur die laufenden Spiele, sondern warf mit ruhiger Stimme immer wieder Erläuterungen zu den Regeln ein. Er erklärte, dass eine Safety nicht etwa ein misslungener Stoß war (weil kein Ball gelocht wurde), sondern dass sie dazu gut war, den Spielball von anderen Bällen so verdeckt abzulegen, dass der Gegner möglichst keinen Ball lochen konnte. Ein Snooker bezeichnete eine verschärfte, sichere Stellung: Der Gegner konnte nur unter großen Schwierigkeiten regelgerecht weiterspielen und wenn es ihm nicht gelang, dann gab es ein Foul, das mit Punkten für den Gegner gezählt wurde. So konnte jeder Spieler durch gutes Stellungsspiel mehr Punkte holen, als noch an Ballwerten auf dem Tisch lagen. Sie kamen auch langsam dahinter, dass die farbigen Bälle alle einen anderen Punktwert hatten und immer auf ihre Markierungen zurückkehrten, solange noch rote auf dem Tisch waren. Die Roten waren einfacher: Sie zählten einen Punkt und verschwanden auf Nimmerwiedersehen, wenn sie gelocht wurden. So wurden sie Spezialistinnen im Snookergucken.
Pinars Lieblingsspieler war Steve Ramsey, der ihr nicht nur äußerlich ein bisschen ähnlich war: Er hatte ein weiches, gut gepolstertes Äußeres, ein dazu passendes Doppelkinn und war ein heller, jungenhafter Typ. Er gab sich anständig, unauffällig und zurückhaltend. Ein Steve Ramsey zeigte keine Gefühle und er wirkte immer kontrolliert und selbstsicher. Belinda stand seit jeher mehr auf die kantigen, dunklen Typen, die Unangepassten, die ihren Frust rausließen und sich so wie sie auch mal zünftig daneben benahmen. Und so war ihr Favorit natürlich Robert Haynes, der unbeherrschte unter den Gentlemen. Und doch waren Pinar und sie sich in dieser Sache ähnlicher, als es auf den ersten Blick schien: Kontrolle und Aggression waren zwei unterschiedliche Methoden, um ihre Unsicherheit zu verstecken.
Belinda stieg ein zum Viertelfinale: Steve Ramsey–Jason Todd, die erste von drei Sessions mit jeweils acht Frames – es gewann, wer zuerst 13 Frames gewonnen hatte. Sie schüttelte die Kissen auf, schleppte Getränke und die Dolcetüte ans Bett und lehnte sich erwartungsvoll zurück. Was für ein Genuss! Die beiden lieferten sich im ersten Frame eine Safetyschlacht. Nach 15 Minuten war das Bild auf dem Tisch total zerschrotet und jeder brillante Stoß, jeder unwahrscheinliche und doch versenkte Pot wurde von der Unmöglichkeit einer Fortsetzung gefolgt. Nach 40 Minuten ging der Frame mit 74:53 an Todd. Was für ein Spiel! Snooker mit allem, was dazugehörte: Die beiden verschossen mehrere leichte Rote, spielten anschließend aber absolut brillante Safeties und perfekte Snooker. Belinda sah grandiose Befreiungsstöße aus einem Snooker, die von grottenschlechtem Stellungsspiel gefolgt wurden. Todd wirkte manchmal wie ein junger Stier, der bei dem Versuch, zur brünstigen Kuh auf die Nachbarweide zu kommen, die Geduld verlor und einfach mit Anlauf das Gatter niedertrampelte. Nach zwei wohlüberlegten Bällen drosch er beim dritten Mal einfach drauf und die Bälle flogen in alle Richtungen. Ungläubig gestikulierte Belinda mit dem süßen Teilchen in der Hand und eine Wolke aus Puderzucker rieselte auf die Bettdecke. Und selbst wenn Ramsey äußerlich mit der Gleichmäßigkeit einer Sanduhr spielte: Auch er machte eine Menge Fehler und es war seltsam, dass er sich anschließend Frame für Frame holte, denn die Spielstärke der beiden wirkte ausgeglichen. Am Ende der Session stand es 6:2. Sie war gespannt, wie das wohl am nächsten Tag weiterging.
Belinda nutzte die Pause, um unter die Dusche zu springen und verpasste deswegen die Vorschau auf das nächste Spiel. Sie stand gerade nackt vor dem Spiegel und föhnte sich die Haare, als die überschwängliche Ansage des Moderators im Crucible Theatre ertönte. Sofort wusste sie Bescheid: Robert Haynes was on his way! Das war ja ein absoluter Glückstag. Belinda schaltete den Föhn aus uns beeilte sich, vor den Fernseher zu kommen. Sie schwang sich ins Bett und genoss ihre Freude, Haynes wiederzusehen. Ihr kam es vor, als wären sie alte Bekannte.
Haynes stieß an. Sein Gegner vermasselte die darauf folgende Safety und ließ eine fette Chance auf dem Tisch liegen, die Haynes sich nicht nehmen ließ: Er spielte ein 79er und ein 54er Break und holte sich damit den ersten Frame. Belinda biss mit gerunzelter Stirn in das nächste Gebäckstück. Sie war irritiert über die Disziplin und Konzentration, mit der er spielte. Kaum Grimassen, keine Mätzchen. Er sah im Gegensatz zu den letzten Malen, wo sie ihn gesehen hatte, sehr zivil aus. Gedankenversunken leckte sie sich den Zucker von den Fingern, bevor sie sich unter die Decke kuschelte und ihre Hände zwischen den nackten Schenkeln wärmte. Er ist echt attraktiv, dachte sie. Immer noch diese Kombination aus Kerl und Gentleman, ein Raubein in Schlips und Kragen, dessen maskuline Körperlichkeit durch die Kleidung nur ungenügend in Bann gehalten wird. Breite Schultern, schmale Hüfte, elegant verpackt. Durch die körperbetonte Weste sind die Bauchmuskeln zu erahnen und die Hose verhüllt nur notdürftig die Tatsache, dass er einen knackigen Hintern besitzt. Sein Spiel zeichnet sich durch einen ununterbrochenen Fluss aus: sein Blick gleitet hochkonzentriert über die Stellung der Bälle, die Entscheidung trifft er sekundenschnell und mit einer einzigen flüssigen Bewegung beugt er sich über den Tisch und setzt das Queue an. Den Stoß führt er mit absoluter Kontrolle aus und dosiert dabei die Kraft perfekt. Belinda spürt die Ehrfurcht vor dem Spiel, den Kugeln, dem Filz, dem Queue. Sie meint, seinen tiefen Respekt davor zu sehen, als Mensch in die physikalischen Gesetze einzugreifen. Und sie ist von der Zärtlichkeit berührt, mit der er zu Werke geht, eine Behutsamkeit, die sein Spiel völlig reibungslos erscheinen lässt. In Wirklichkeit walteten hier wahrscheinlich weder Ehrfurcht noch Respekt, sondern schlichte Perfektion im Stellungsspiel. Haynes Effizienz ließ das Spiel so lächerlich einfach erscheinen und grenzte schon bald an Provokation. Und die Selbstverständlichkeit, mit der er unmögliche Stellungen löst, schrappte scharf an der Grenze zur Demütigung des Gegners. Belinda hatte viele solcher Auftritte gesehen, doch selten hatte er dabei entspannt gewirkt. Überraschenderweise zeigte sich heute auf seinem Gesicht ein nahezu unsichtbares Lächeln, wenn ihm etwas Besonderes gelungen war. Das kannte Belinda noch nicht. Auch sie lächelte.
Als er zum nächsten Stoß ansetzte, betrachtete sie ganz hingerissen die Beugung seines Knies. Sie sah die unwillkürliche Zuckung seines Mittelfingers unmittelbar vor dem Stoß und hatte Assoziationen, die rein gar nichts mit Snooker zu tun hatten. Einen Augenblick später hörte sie Robert, wie er ihr ins Ohr summte: Happiness is a warm gun. When I hold you in my arms and I feel my finger on your trigger (oh yes) I know nobody can do me no harm. Because happiness is a warm gun … yes, it is.
Als sie das nächste Mal den Bildschirm mit dem Snookertisch ansah, stand es 67:19 im zweiten Frame. Sie brauchte einen Augenblick, bis sie die Lage sondiert hatte: Haynes lag mit 40 Punkten vorne und es waren nur noch 35 Punkte auf dem Tisch. Sein Gegner brauchte also mindestens 5 Foulpunkte und hatte ihn gerade erfolgreich gesnookert. Wie sollte Haynes da herauskommen? Belinda setzte sich im Bett auf und betrachtete konzentriert den möglichen Weg des Spielballs, den die Bildregie gerade eingeblendet hatte. Einen Augenblick später sah sie den Ball auf der virtuellen Linie entlangrollen. Wow, was für eine souveräne Befreiung! Haynes hatte trotz der schwierigen Position eine Rote über Bande angespielt und anschließend den Spielball einigermaßen sicher abgelegt. Aber was hieß in so einem Spiel schon einigermaßen? Sein Gegner versteckte den Spielball wieder in einem verdammt kniffligen Snooker. Haynes stieß, der Spielball verfehlte die Rote und traf stattdessen Pink. Foul Robbie Haynes. Sechs Punkte für seinen Gegner, der Frame wieder offen. Das wäre jetzt ein guter Augenblick für Haynes, um nervös, sauer oder autoaggressiv zu werden! Er könnte auf den Tisch schlagen, einen Fickfinger zeigen, wenigstens das Gesicht verziehen. Nichts. Er wartete aufmerksam den Stoß seines Gegners ab, begutachtete die mäßige Safety und lochte dann seelenruhig die letzte Rote. »Wunderbarer Stoß«, hörte Belinda den Kommentar von Rolf Kalb. Und sie konnte nicht glauben, was sie sah: Haynes sah zutiefst zufrieden aus.
Annähernd vertraut
Am ersten Abend nach ihrer Rückkehr lag sie mit dem Rechner vor der Nase im Bett und schaute stundenlang die Sportart, von der böse Zungen behaupteten, man bräuchte dort dringend so schillernde Persönlichkeiten wie Haynes, so langweilig wie der Sport an sich sei. Sie teilte diese Auffassung überhaupt nicht. Sie konnte wunderbar in einer Partie versinken und die Unaufgeregtheit dieses Spiels ließ sie auf eine Art zur Ruhe kommen, nach der sie sich immer gesehnt hatte.
Todd hatte das Viertelfinale gegen Ramsey trotz seines 2:6-Rückstands noch gewonnen: mit 13:12. Sie mussten wirklich miteinander gekämpft haben! Sie würde sich das Spiel auf alle Fälle noch anschauen, denn das fand sie gerade so spannend am Snooker, dass sich die Sessions teilweise so extrem voneinander unterschieden. Es gab immer wieder unfassbare Aufholjagden nach großen Rückständen. Gerade, wenn nur noch ein Frame zum Gewinn fehlte, machte sich der Druck auf den Führenden oft so bemerkbar, dass der Gegner von den Fehlern profitieren konnte.
Aber jetzt wollte sie endlich Haynes spielen sehen. Ausgestattet mit genügend Verpflegung für zwei Tage und einem Kissenberg im Rücken drückte sie den Startknopf des ersten Videos. Sie starteten mit vielversprechenden Vorleistungen: Locherfolg im gesamten Turnier: Todd 91 %/Haynes 93 %, erfolgreiche Safeties im Turnier 86 %/78 %. Das waren schon mal aussagekräftige Duftmarken. Mit »First frame, Robbie Haynes to break«, eröffnete die Schiedsrichterin das Spiel. Der Anstoß war nicht wirklich schlecht, aber es blieb eine mögliche, schwierige Rote liegen. Jason Todd lochte sie mit einem so beeindruckenden Stoß, dass Belinda ein bewunderndes »Boah« ausstieß. Und dann verschoss er allen Ernstes die Blaue vom Punkt – ein klassischer unforced error sozusagen. Aber auch Haynes kam nicht sofort ins Rollen: nachdem er 14 Punkte gemacht hatte, hantierte er eine Weile mit den Hilfsqueues. Er wirkte unentschlossen und prompt verfehlte die Rote die Tasche. Aber als er auf dem Weg zu seinem Platz sich zum Tisch umschaute, um die Situation abschließend zu erfassen, machte er wieder diesen wunderbar ruhigen Eindruck, den Belinda schon im Viertelfinale gesehen hatte. Er haderte nicht. Und welchen Unterschied das für das Spiel machte, zeigte der weitere Verlauf: Nach einigen Safeties steckte Todd in einem schwierigen Snooker. Er verpasste zwei Mal die Rote und würde den Frame verlieren, wenn er sie ein drittes Mal nicht anspielte. Die ersten beiden Stöße waren komplizierte Versuche, die Rote zu treffen und trotzdem nichts Lochbares für Haynes liegen zu lassen. Und statt eine einfachere, aber durchdachte Alternative zu wählen, zimmerte Todd den Spielball derart über den Tisch, als hätte er planlos draufgehalten. Da war es wieder, dieses typische Jungbullenverhalten. Belinda registrierte kopfschüttelnd die Tatsache, dass der Spielball trotzdem sicher liegen blieb. Es ging dann eine Weile mit abwechselnden Safeties hin und her, bis Haynes einen Einsteiger für Todd liegen ließ. Der schien jetzt wirklich neben der Spur zu sein und verschoss auch diesen Ball. Haynes kam damit recht einfach in die Bälle, aber die Farben lagen fast alle nicht auf ihrem Spot. Das hieß, dass das Break einigermaßen schwierig zu entwickeln war. Und nun zeigte er ein Breakbuilding voller Selbstvertrauen, dass Belinda vor Staunen der Mund offen stehen blieb. Sein herausragendes Stellungspiel bescherte ihm weitere 65 Punkte und damit den Framegewinn. »Confidence is the key«, hatte Haynes mal gesagt. Wie wahr. Sein Verhalten passte so gar nicht zu dem selbstkritischen Menschen, den sie bisher kannte. Was war bloß in der Zwischenzeit mit ihm passiert? Sie unterbrach das Spiel und setzte sich auf, um im Netz suchen zu können. Und siehe da: Haynes hatte in der Zwischenzeit mit einem Mentalcoach gearbeitet. Sie fand, das war wirklich ein beeindruckendes Ergebnis.
Aber es war kein Selbstläufer, sie arbeiteten sich im Parallelflug vorwärts bis zum 6:6. Erst da legte Haynes einen Zwischenspurt ein, der ihm 3 Frames Vorsprung zum 9:6 einbrachte und den er noch ausbauen konnte. In die letzte Session gingen sie mit 14:10 und Haynes gewann mit 17:11.
Als sie den Vorspann zur ersten Session des Finales sah, war sie wieder einmal überzeugt davon, dass Haynes es hasste, berühmt zu sein. Während der Ansager in der Arena die übliche Lobeshymne auf ihn sang, hibbelte er im Gang hinter dem Eingang herum und versuchte jeglichen Blickkontakt mit der auf ihn gerichteten Kamera zu vermeiden. Am liebsten würde er wahrscheinlich einfach nur spielen. Inkognito. Ohne dieses ganze Brimborium. Wenn die Spieler die Halle betreten, wenn sie sozusagen aus den Katakomben auf die Bühne gehen, dann gibt es auf der obersten Treppenstufe die Gelegenheit für eine schöne Pose: ein kurzes Innehalten, vielleicht ein Winken, ein Blick in die Runde, auf alle Fälle ein Lächeln, mit dem man das Publikum begrüßt, sich freut, dass es da ist und sich ihm zeigt. Der Beweis, dass alle wissen, warum sie hier sind. Ganz anders Haynes: Er läuft auf die Treppe, ohne auch nur eine Tausendstel Sekunde zu zögern. Im Gegenteil, vielleicht beschleunigt er sogar etwas, damit bloß niemand auf die Idee kommt, ihn zu beachten. Er reckt zwar den Arm zum Gruß in die Höhe, aber gleichzeitig senkt er den Blick und hastet in den Innenraum, wo er flüchtig das nötige Händeschütteln mit dem Ansager und der Schiedsperson absolviert und sich dann auf seinen Platz verzieht. Dort vermeidet er jeglichen Kontakt zur Außenwelt, indem er äußerst konzentriert und ganz akribisch seine Handtücher bereitlegt und sein Getränk einschenkt.
Belinda schüttelte den Kopf und lachte leise. Was für ein Gegensatz zu seinem Gegner, der seinen Einzug in die Arena sichtlich genoss und den Jubel des Publikums auskostete. Er winkte und klatschte mit Zuschauern ab und vor allem trug er ein breites, stolzes Lächeln auf dem Gesicht. Einen Augenblick später musste Belinda lauthals lachen: Er hatte sich neben dem Tisch auf die Knie fallen lassen und den Teppich geküsst! So kann man es also auch machen, dachte sie. Ob Haynes es seltsam fand, dass die Leute seinetwegen kamen? Befremdete es ihn, dass das Publikum ihn feierte? Sie wurde den Eindruck nicht los, dass es ihn nervte, wie sehr sein Spiel die Menschen begeisterte. War es doch nur manchmal perfekt. Schaffte er es doch immer noch nicht, ununterbrochen gottgleich zu spielen. Womöglich hielt er seine Fans für Lügner, Ignoranten oder Idioten.