Das Finale ist ja schon von der Paarung nicht unbedingt vorherzusehen gewesen. Als feststand, dass hier Shaun Murphy und Stuart Bingham aufeinandertreffen würden, war sich nicht nur die Fachwelt schnell einig, wer hier der Favorit ist. Murphy war neben den üblichen Verdächtigen Trump, Ding, O’Sullivan und Robertson als Titelkandidat in die WM gegangen.
Bei seinen deutlichen Siegen gegen Hull und Perry zeigte er keine Schwäche und auch gegen den Youngster Anthony McGill, der bei dieser WM gestandene Spieler wie Maguire und Selby in Angst und Schrecken versetzte, zeigte er ein selbstbewusstes Spiel, dass viele als das Snooker seines Lebens bezeichnen. Im Halbfinale gegen Hawkins hätte er sich eine Session sparen können, aber dass er für einen Gewinnframe noch in der 4. Session antreten musste, würde ich angesichts des 17-9 nicht als Einbruch bezeichnen.
Vielleicht wirken Rücktrittsgedanken beflügelnd, denn auch Shaun Murphy hatte im letzten Frühjahr Zweifel daran gezeigt, ob er jemals in diesem Sport noch etwas Wesentliches reißen könnte. Doch wie andere auch blieb er doch dabei und gewann in der Saison wieder Turniere, darunter das Masters. Zehn Jahren nach den ersten WM-Gewinn scheint er nun der Meinung zu sein, dass ihm der Titel in diesem Jahr wieder zusteht.
Stuart Binham hat im Windschatten von schockierenden Ergebnissen bei anderen Spielen quasi unbemerkt das Finale erreicht. Sowohl gegen Robbie Williams, wie auch gegen Graeme Dott und O’Sullivan spielte er ein hochklassiges Snooker, wodurch seine Siege nie gefährdet waren. Bei seinem 17-16 gegen Judd Trump musste er sich schon ein bisschen mehr ins Zeug legen und Trumps Comebacks zurückschlagen, was ihm aber gelang und den verdienten Einzug ins Finale bescherte.
Für Bingham ist dieses Spiel das Großartigste, was er in seiner langen Karriere jemals erreicht hat und man merkt ihm in jedem Interview auf sympathische Weise an, wieviel es ihm bedeutet. Nicht nur deshalb würden viele Leute ihn hier gerne als Sieger sehen, auch wenn sie nicht den A**** in der Hose haben (wie andere, mutigere Personen), das auch zu tippen. Im Grunde genommen ist Bingham spielerisch genauso in der Lage, das Ding hier zu gewinnen wie Murphy. Vielleicht straft er noch alle Lügen, die es ihm nicht zutrauen.
Die ersten beiden Sessions ermutigen mich zu dieser Aussage. Nachdem am Nachmittag Murphy voranpreschte und sich die ersten drei Frames sicherte, schloss Bingham unbeeindruckt – unter anderem mit einer 105 – zum 3-2 auf und konnte zum Ende der ersten Session sogar ausgleichen.
Die Abendsession begann noch einseitiger als die vorherige: Murphy gewann alle Frames bis zur Pause. Bingham hatte im Auftaktframe die Chance, in Führung zu gehen. Er machte 57 Punkte und verschoss dann. Murphy krallte sich den Frame mit einem 74er Break. Frame Nr. 10 und 11 gingen mit zwei Centuries souverän an Murphy und im 12. Frame war wieder erst Bingham am Zug und musste nach einem Fehler wieder Murphy das Feld überlassen. So gingen sie mit einem 8-4 für Murphy in die Pause, was schon die ersten Grabgesänge für Bingham provozierte. Doch von Tee und Keksen (Vermutung) offensichtlich gestärkt kam Bingham zurück und gab keinen Anlass für Mitleid: Mit Breaks von 76, 123 und 89 schloss er zum 8-7 auf, bevor Murphy mit einem 76 wieder auf 9-7 davonzog. Der letzte Frame der Session war ein munterer Schlagabtausch, den Bingham mit einem wunderbaren Glückstreffer für sich entschied. Beide mussten noch darüber schmunzeln, als sie sich zum Sessionende die Hände schüttelten.
Natürlich ist es nicht gut, immer einem Vorsprung hinterherzulaufen. Natürlich legt Murphy hier zeitweise ein Spiel an den Tag, das zum Niederknien ist. Und natürlich spielt Bingham genauso billantes Snooker und zeigt bei seinen Kommzurücks ein unglaubliches Selbstbewusstsein. Wir können uns auf noch zwei umkämpfte, grandiose, spannende Sessions freuen.
Der belgische Schiedsrichter Olivier Marteel, der hier sein erstes WM-Finale schiedst, macht übrigens einen tollen Job. Er ist so unauffällig, dass ich seine Erwähnung hier erst völlig vergessen hatte.
Mit den letzten beiden Centurybreaks haben Murphy und Bingham übrigens die Nr. 83 und 84 dieses Turniers gespielt und haben damit den Crucible-Rekord von 2009 eingestellt und übertumpft. Das passt zu diesem Finale!
Selten, überaus selten, habe ich mich so GERN geirrt, wie bei meinem WM-Tip. Umso mehr freue ich mich für Stuart Bingham, der seinen WM-Titel absolut verdient gewonnen hat. Beide Spieler haben hervorragend und mitreißend gespielt und die letzte Final-Session war so unglaublich fesselnd, daß mir erst jetzt auffällt, wie spät es eigentlich ist. Wahnsinn!