Nach zwanzig Jahren Blut, Schweiß und Tränen sowie einem nervenaufreibenden wie unterhaltsamen Finale hat der 38-jährige Stuart Bingham es geschafft: Zum ersten Mal in seiner Karriere stand er im Finale einer Weltmeisterschaft und hat diese Gelegenheit genutzt, sich – für manche überraschend* – gegen den Mann-in-Form Shaun Murphy den Titel zu holen.
Ein überglücklicher Bingham nach dem Spiel: „Dieser Moment bedeutet mir alles, es ist ein unglaubliches Gefühl. Ein paar Dinge haben dazu beigetragen und so viele Freunde und Familie haben mich unterstützt. Mein Trainer Steve Feeney, der einfach ein paar Sachen in der Routine geändert hat; meine Ehefrau, meine Eltern, mein Sohn, ich könnte ewig mehr Leute aufzählen. Ich hatte einen glücklichen Start gegen Robbie Williams, dann habe ich Stärke getankt gegen Graeme Dott, Ronnie O’Sullivan und Judd Trump. Schließlich habe ich noch den zweitbesten Spieler des Turniers schlagen können.“ deutet lachend auf Murphy. „Ich kann es gar nicht glauben. Als Junge habe ich davon geträumt und nun ist es Realität.“
Shaun Murphy sparte nach dem Spiel nicht an Komplimenten für Bingham, konnte aber seine Enttäuschung nicht verbergen. „Es war eine großartige Nacht, auch wenn es nicht so geendet hat wie ich es mir vorgestellt hatte. Es war ein inspierender Stuart Bingham gegen O’Sullivan und Trump. Es gibt keinen Spieler, der es mehr verdient hätte als Stuart Bingham.“ „Morgen werde ich mich wahrscheinlich richtig schlecht fühlen. Niemand möchte ein WM-Finale verlieren, doch Stuart hat während des ganzen Turniers wie ein Champion gespielt. Er hat auch gegen mich wie ein Gewinner gespielt und manchmal im Sport sind Menschen dazu bestimmt zu gewinnen. Stuart ist ein Riesenfan des Spiels. Er liebt Snooker mehr als das Leben selbst und er hat es verdient zu gewinnen. Auch wenn ich enttäuscht bin, ich freue mich sehr für ihn.“
Langweilig wurde es während der ganzen Partie nicht. Mal kontrollierte Murphy das Spiel, dann wieder Bingham – es wurde nach der klassischen „Päckchenstrategie“ gespielt. Die Nachmittagssession begann mit vier Gewinnframes in Folge für Bingham, der sein Stellungsspiel noch einmal verbesserte und damit nicht nur einige hohe Breaks erzielte, sondern im 20. Frame sogar einen Maximumversuch bis zur letzten Roten spielte. Das Publikum stand Kopf und pushte Bingham dadurch vermutlich noch zusätzlich. Ken Doherty war in der Kommentatorenkabine hörbar aus dem Häuschen: “Ohhh! Don’t let it be tuttsching”, rief er gleich mehrmals, als der Spielball an der Roten liegenblieb. Stephen Hendry kommentierte in der Pause: „Ich weiß, dass Bingham ein heavy scorer sein kann. Aber ich muss gestehen, dass ich nicht damit gerechnet habe, dass er unter Druck so gut spielen wird.“
Murphy konnte nicht ansatzweise seine Leistung aus den ersten beiden Sessions auf den Tisch bringen und wirkte zwischenzeitlich richtig von der Rolle. Und ihn verließ auch ein bisschen das Glück – Bälle, die am Anfang des Spiels noch reingegangen sind, fielen nun nicht mehr. Bezeichnend ist die Grüne aus dem 25. Frame, die buchstäblich wieder aus dem Loch gekrochen kam. Mit 14-11 endete die dritte Session.
Der erste Frame der Abendsession war schwer umkämpft und Murphy konnte ihn für sich entscheiden. Doch im 27. Frame machte Bingham ein Century, welches nicht nur John Parrott anschließend als “Break of the Tournament” bezeichnete: ein Arbeitsbreak, das durch die miese Lage der Bälle nicht erleichtert wurde, durch das sich Bingham aber mit bewundernswerter Zähigkeit hindurchpopelte. Kurz darauf machte sich der Druck dann bei beiden gleichermaßen bemerkbar: die Fehlerquote stieg, die Bälle wurden vorsichtiger gespielt. Die Folge davon waren kleinere Breaks und längere Frames. Beim Stand von 15-15, bis dahin waren schon über acht Stunden in diesem Finale gespielt, bildete der 31. Frame den Höhepunkt: 65 Minuten lang lieferten die beiden sich eine Safetyschlacht, aus der Bingham als Sieger hervorging. „Während dieses Frames bin ich deutlich ruhiger geworden. Ab da habe ich ziemlich solide gespielt“, sagte der Engländer nach dem Spiel. Nach dieser 16-15 Führung sahen wir nichts von der vielzitierten Angst vor der Ziellinie, sondern wir sahen einen beflügelten Bingham, der sich die letzten Frames holte. Unter dem tosenden Applaus der Zuschauer_innen im Crucible lochte er die letzten Bälle und da sah man deutlich, was er vorher mehrmals angekündigt hatte: „Ich werde jeden Augenblick dieses Finales genießen.“
* Wie die geneigten Leser_innen wahrscheinlich wissen, gab es natürlich auch Menschen, die davon gar nicht überrascht waren. Wie man hier nachlesen kann.