Liebe in Zeiten der Corona: Maggis Werk und Teufels Beitrag

UK Championship 2019 Gewinner Maguire beim Stoß
Stephen Maguire © World Snooker/Tai Chengzhe

Vorgestern Abend geschah ein Wunder. Naja, wenigstens beinahe. Stephen Maguire hat ein Turnier gewonnen. Endlich wieder. Was das Wunder mit Corona oder Yoga zu tun hat, versucht M in diesem Gastartikel zu ergründen.


Es gab mal Zeiten, da war Verzicht eine Wahl. Verzicht auf die 2 % mehr in der Milch. Verzicht auf das zweite Glas Wein. Verzicht auf das Eurosport-Abo in snookerfreien Monaten. Überhaupt Verzicht auf sinnfreien Luxus. Verzicht auf Sex. Und wenn wir schon beim Thema sind: Verzicht auf schlechte Beziehungen. (Barry Agenda, anyone?)

Nun haben uns die Zeiten die Wahl abgenommen. Einsamkeit und Zukunftsangst lassen das zweite Glas Wein wie moderate Medikation anmuten. Das häusliche Liebesspiel ist zur DIY-Variante der dramatischen Oper geworden. Und wir können froh sein, wenn überhaupt noch echte Milch im Regal steht.

Auch Snooker lässt uns manchmal keine Wahl. Das Baizeboot, das uns einst so treu ans Ufer der Trophäen gebracht hatte, war in das Auge eines Tornados geraten und schließlich vor der unbewohnten Insel Corona auf Grund gelaufen.

Dort standen frisch bezogene Tische unter üppigen Palmen, die so grün waren wie das Meer, in dem sich die Strachan-Tücher spiegelten, und staubfrei funkelnde Ballsätze und Hilfsqueues blickten in perfekter Ordnung aus einer tribünenhohen gläsernen Vitrine auf den Sandstrand.

Die Profis aber hatte es in das ferne nördliche Reich der Webcamia-Dynastie gespült, und wir … Wir? Drifteten mit dicken Rettungsringen um den Bauch vor der Küste von Corona, die Hände hungrig ausgestreckt. Ich selbst geriet in einen Strudel, der mich in eine Dunkelheit außer Sichtweite der anderen Rettungsringe wirbelte, bis mir die alten Tage wie die Erinnerung an nichts weiter als einen reinen Tagtraum vorkamen, den ich mir im Wahn zusammenhalluziniert hatte.

„Wiiiiiiiiillllssssoooooooooon!!!!“, hatte Tom Hanks in Castaway geschrien. Ich schrie: „Kyyyyyyreeeeen Wiiiiiillllsssoooooon!!! Gaaaaaryyyy Wiiiiillllsooooooon!!! Wiiiiiilllloooooooooo!!!!“

Mein Hashtag-Floß war fortgedriftet. Doch ein dunkler Fremder sollte mich zu einem rettenden Korallenriff in Sicherheit bringen.

Ein Ding der Unmöglichkeit

Die Zeit war ungezählt und unverzeichnet vergangen, als am Horizont eine hochgewachsene, breitschultrige Figur mit bulligem Kopf und sicherem Stand in einem knarzenden Kahn aus dem Nebel glitt. Seine Frisur glich einem Schwarzbodenacker nach der Weizenernte. Er zog mich aus dem werbebandenblauen Wasser und hievte mich in seinen Kahn.

Wir schienen uns der Küste von Coral Reef Island, etwa zwei Seemeilen von Corona entfernt, zu nähern, doch die Cueball-Möwen, die mit ihrem blendend weißen Gefieder ohne ihr Schnabelwerk vor dem gleißenden Grell des wolkenlosen Himmels verschwunden wären, kreischten:

„Das ist ein Illegaler! Der hat keine Papiere für das Coral Reef! Der kann hier nicht anlegen! Wir haben keine freien Plätze mehr!“

Dahinter postierten sich sieben Männer in beklebten Westen mit verschränkten Armen, genau wie auf ihren Promofotos, und wiederholten in ihren englischen und schottischen Akzenten wie abgerichtete Papageien:

„Keine freien Plätze mehr. Alle für uns. Keine freien Plätze mehr.“

Und am Strand warteten bereits die WST-Krabben mit klappernden Scheren, um seine Ankerseile zu zerschneiden.

Dann aber trat der Achte vor die Gruppe, legte demonstrativ sein Kampfqueue nieder und winkte den Kahn heran.

„Willkommen, Fremder“, trompetete der Achte in seinem Akzent, der so ganz anders war als der der anderen. „Nimm du meinen Platz ein. Möge dein lackiertes Essstäbchen auf Coral Reef Island treu und golden stoßen.“

Danach verschwand er lautlos im fernen Osten der Insel.

„Was für ein Ding!“, nickte ihm der Fremde mit respektvoller Anerkennung hinterher. 

Maggi Ex Machina

Ich war wie magnetisch angezogen. Irgendetwas an ihm schien mir so unendlich vertraut, und doch so unsagbar neu.

„Wer bist du, dunkler Fremder?“

„Sei nicht albern. Du kennst mich seit fast 20 Jahren. Maggi! Weißt du nicht mehr?“

„Maggi? Wie die Suppenwürze?“

Kichernd schüttelte er den Kopf, um dann mit dem Queue ernst auf die Anderen Sieben zu zeigen, die ihn argwöhnisch umkreist hatten. Es roch nach Testosteron.

„Na, dich kennen wir doch“, zischten sie. „Kommst du, um Ärger zu machen?“

„Nein, Jungs. Ich will nur spielen.“

„Kannst du haben, Nichtqualifikant.“

Tag für Tag zerrten sie ihn in immer neuen Formationen an ihren Tisch, den sie mit einem Flaschenzug von der Corona-Küste auf Coral Reef Island gebracht hatten. Doch die Bälle rollten nur für ihn.

„Ton! Äh … ich meine: Toll!“, klatschte ich.

Die Anderen Sieben aber scharrten mit den Füßen:

„Führt sich hier auf. So, die Schonzeit ist vorbei, Bubi! Zeit fürs Fortgeschrittenen-Level …“

Der amtierende Weltmeister trat an den Tisch, und gleich herrschte ein anderes Klima. Die Temperatur stieg ins Unerträgliche. Der Wind bließ gegen die Laufrichtung. Die Möwen bewarfen das Tischbild mit Muschelscherben. Die Krabben zerrten am Tuch, sodass die Bälle sprangen. Die Stimmen der Anderen Sieben durchdrängten die Luft mit gespenstisch penetrantem Flüstern:  „Haben doch gesagt, er gehört hier nicht her. Haben doch gesagt, ist kein Platz für ihn. Nichtqualifikant! Nichtqualifikant!“

Immer wieder peitschte die Gischt gegen seine Lider. Immer wieder spuckten die Cueball-Möwen über Maggis Schultern, bis er mit dem Gleichgewicht kämpfte. Doch weder fiel er, noch wütete er. Unbeirrt und ohne Sach- oder Selbstschädigung führte er das Queue weiter, und obwohl immer mehr daneben ging, hielt er weiter Kurs. Fast schien das Queue der kapriziöse Vollblüter, und er der sattelfeste Jockey.

Mein Herz schmolz dahin. Dem Frieden aber traute ich nicht.

War er ein junger Sisyphos, gefangen in einem Schicksal ohne Befreiung? War er ein stoischer Seneca, sich einem ungewissen Schicksal hingebend? War er Tom Hanks’ lendenbeschürzter Volleyball-BBF, ein unheilvolles Schicksal gegen ein anderes eintauschend?

Tatsächlich fast bis aufs Haar glich er dem, der er zu sein behauptete und an den ich mich zu erinnern glaubte. Dieselbe nervöse Erwartung seiner jähzornig lodernden Ausbrüche lag bei seinem Anblick noch wie Glut auf meinem Herzen. Dasselbe Feuer knisterte aus seinen Augen. Doch nun strahlte es mit kontrollierter Flamme, vornehm wie ein Chalet-Kamin. Wo einst wütende Schläge auf teure Objekte Triumphesträume zu Asche zerfallen ließen, brannte höchstens noch die Unterlippe unter nachdenklichem Kauen. Manchmal lächelte er es gar fort. Es war mir unerklärlich. Ein Klon? Ein Hochstapler? Nein, dafür war er zu großartig.

Ich blickte ihn forschend an:

„Sag mal, hat das was mit Yoga zu tun?“

„Ist das ‘ne neue Biermarke?“, lachte er und zwinkerte: „Ich hol mir jetzt so ‘n Yoga-Bier. Ich bring dir auch eins mit. Muss ich aber kühlstellen. Bis heute Abend!“

Livescoring-Odyssee

Wieder sollten wir uns verlieren. Denn kaum verhallten seine Worte, da brach das Gebrüll der Seehunde los:

„EISCREME! ERDNÜSSE! LIMOS! AUTOVERSICHERUNGEN! RADSPORT-ABOS AUF E1! JETZT RABATTE SICHERN! WIR HALTEN ZUSAMMEN!“

Eine Werbewelle riss mich fort und verbannte mich erneut ins Dunkel – diesmal das des viel beschauten, doch unwirtlichen Livescore-Atolls. Zuletzt hatte ich dort 2019 einen Exilaufenthalt verbracht. Vermisst hatte ich sie nicht, diese billige Absteige der eigenen schlimmsten Befürchtungen. Ich rief um Hilfe, doch ich war verloren. Eben hatten mir noch seine Wundertaten die Augen erfüllt, nun sah ich nichts mehr.

In blinder Nacht flackerte hier nur das schwache Licht der Kokosnuss-Chronometer, und oft stieß ich mir, beim Versuch, sie abzulesen, den Kopf. Die Zahlen schossen mir entgegen, doch je mehr es waren, desto mehr vermisste ich meinen Geliebten.

Ich schloss die Augen und versuchte, mich in eine Punktestand-Trance* zu versetzen. (*Fachterminus Punktestand-Trance: altes Ritual verrückt-verzweifelter Scoregucker, bei dem durch Zuneigungsdampf, Erinnerungsabruf und kognitive Score-Präsenz eine spezifische Projektion des Tischgeschehens evoziert wird) Und dann sah ich ihn, den Dunklen aus meiner Vergangenheit: kopfschüttelnd, frustriert aufseufzend, sarkastisch schnaubend, die Nerven verlierend, aus den Hörnern rauchend, von der Rolle rollend dem Abgrund entgegentaumelnd, mit all seiner ruinös mundschaumigen Feurigkeit alles aus der Hand gleiten lassend.

Doch als ich meine Augen wieder öffnete und auf die Kokosnüsse blinzelte, winkten die anderen Rettungsringe vom Hashtag-Floß zuversichtlich zum Livescore-Atoll hinüber und bastelten Konfetti aus Ananasschuppen.

„FINALE!“, riefen sie mir zu.

Ich verbrachte die Nacht auf dem Atoll und beschloss, morgens bei ruhiger See zur Coral Reef Island zurück zu schwimmen.

Geschlüpft

Endlich stand er wieder vor mir, und ich labte mich an seinem Anblick, wenn auch immer noch skeptisch. Das sollte mein Mags sein? Würdevoll? Besonnen? Beharrlich? Oh bitte. Das war doch wohl ein Trick! Der Mann hatte doch ein Geheimnis! So blind macht Liebe auch nicht!

Meine Augen tasteten die Umgebung ab. Diese Yogamatte, die muss doch irgendwo sein? Hasenpfoten? Eine Voodoo-Puppe mit eigenem Konterfei? Ein neuer Deepak Chopra? Ein Haarstrang von John Higgins an einem Schlüsselanhänger? Irgendwas!?!?

„Hey! Suchst du mein Geheimnis?“

Er erhob seine Hand. Einen Moment lang zuckte ich leise wimmernd zusammen, dass mir meine rosa Brille auf der Nase verrutschte. Doch er täschelte mir nur liebevoll die Wange und zwinkerte:

„Da wirst du’s nicht finden. Und ich weiß eigentlich gar nicht, warum du so überrascht bist. Hast du mich denn ganz vergessen?“

„Vergessen? Machst du Witze? Hast du die geringste Ahnung, wie lange ich schon auf deine Rückkehr warte und darauf, dass du diesen Schnöseln endlich wieder den Pomadenschleim aus den Haaren haust!?“

„Wie kannst du dich dann nur an so wenig erinnern? Schau mir weiter zu. Und sieh richtig hin.“

Immer noch ein wenig ängstlich davor, was er wohl tun würde, wenn ich ihm blöd kam, beschloss ich, auf ihn zu hören, und versetzte mich, Spielzug für Spielzug, wieder in Trance. Und wieder erschien er mir aus der Vergangenheit, doch diesmal aus der jüngeren, aus der Zeit der Team-WM, der 6-Red, dieser ganzen Saison vor all unseren Abenteuern und Albträumen auf Insel Corona: spaßhabend, zu sich findend, sich fangend, durchhaltend und auf sich vertrauend.

Ich öffnete die Augen, sah von Maggi vier Fouls in Folge und fast postwendend einen Snooker, als sei zuvor rein gar nichts gewesen. Und nun war ich wie verzaubert, denn nun wusste ich: er war es tatsächlich, des diabolischen Kokons endlich entledigt, mit kürzerem Raupenhaar und längerem Flügelschlag. Die Tränen standen mir in den Augen.

„Du bist es wirklich! Aber Mags?“

„Hm?“

„Der Punktestand gerade ist immer noch scheiße.“

Er lachte lauthals, rückte meine rosa Brille wieder zurecht und holte sich das Finale, dass mir die Knie weich wurden.

Nach der Yogamatte halte ich trotzdem weiterhin Ausschau.

***

Dieser Artikel wurde von Gastautor*in M verfasst und spiegelt nicht die Meinung der SnookerPRO-Redaktion wider. Interesse auch auf SnookerPRO.de zu veröffentlichen? Alle Infos hierzu gibt es auf unserer Mitmachen-Seite.

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